Dieser Artikel erschien im Brainstorm Magazin 90 im Mai 2015.
Acht Uhr morgens, der Nebel zieht durch die schmalen Gassen Sa Pas, es ist kalt und wir sind müde von der neunstündigen Zugfahrt von Hanoi nach Lao Cai. Vom Bahnhof Lao Cai dauerte es nochmals eine Stunde, um mit dem Bus zu unserem Ziel, dem auf 1600 Meter gelegenen Sa Pa, zu gelangen. Nach dem Frühstück gestärkt mit einer Pho, einer traditionellen vietnamesischen Suppe, geht es uns etwas besser. Wir machen uns auf die Suche nach Phom, mit der wir am Vorabend telefonisch ein Treffen vereinbart haben. Sie warte auf dem Hauptplatz in Sa Pa und trage ein rotes Kopftuch.
Trotz der frühen Morgenstunde wimmelt es auf dem Hauptplatz in Sa Pa nur so von Menschen.
Trotz der frühen Morgenstunde wimmelt es auf dem Hauptplatz in Sa Pa nur so von Menschen. Auf dem ganzen Platz verstreut sieht man Grüppchen von Frauen der verschiedensten Bergvölker Sa Pas. Wir erblicken Phom vor der katholischen Kirche. Auf dem Kopf trägt sie ihr rotes Tuch mit weissen Rändern. Sie hat eine dunkelblaue Tracht an, die bunt bestickt ist, als Schuhwerk gelb verfärbte Gummilatschen und einen Korb auf dem Rücken. Sie lächelt uns verlegen an.
Phom spricht sehr gut Englisch. Wir können ohne weiteres mit ihr kommunizieren und handeln mit ihr einen Preis aus, damit sie uns als Tourguide in und um Sa Pa herumführt. Zudem wollen wir, dass sie uns einen Homestay organisiert, eine Übernachtung bei einer Bergvolk-Familie. Ich bin gespannt, was uns in den nächsten 48 Stunden erwartet.
Auf unserer Rollertour durch die atemberaubende Berglandschaft ausserhalb Sa Pas lernen wir Phom besser kennen. Wir erfahren, dass sie weder lesen noch schreiben kann, nur Nummern kann sie entziffern. Es sei ihr ein wenig peinlich, doch leider hatte sie nie die Chance zur Schule zu gehen, so wie ihre Kinder heute. Obwohl Phom nicht lesen und schreiben kann, spricht sie verblüffend gut Englisch. Sie klärt uns auf: „Ich habe es von den Touristen gelernt, als ich auf dem Markt im Sa Pa meine selbst gestickten Taschen verkaufte. Mit jedem Gespräch lernte ich dazu.“ Ich bin beeindruckt und erstaunt. Das ist wirklich mal learning by doing.
Nachhaltiger Tourismus sieht eindeutig anders aus.
Da Phom selbst nicht schreiben kann, bat sie eine Freundin, ihr „Visitenkarten“ zu machen. Ihre „Visitenkarte“ ist ein Stückchen weisses Papier mit ihrem Namen und ihrer Handynummer. Diese gibt sie an ihre Touristen weiter, die sie, zurück in Hanoi, als Tourguide anderen Backpackern weiterempfehlen. Auch uns überreicht sie lächelnd eine ihrer Visitenkarten. „Wenn die Touristen direkt bei mir buchen, verdiene ich besser!“, erklärt Phom. Denn der direkte Kontakt sei um einiges lukrativer als wenn sie über ihre Agentur gebucht wird. Dort bekomme sie nämlich nur zehn Dollar pro Tag, egal wie viele Personen sie mit auf die Wanderungen und Rollerfahrten mitnehme. Phom schildert verzweifelt, wie sie von der Agentur ausgenutzt wird: „Die Agentur bekommt von den Touristen meist über hundert Dollar für zwei Tage in meinem Dorf. Davon kommt bei mir und meinen Leuten jedoch nur wenig an.“ Nachhaltiger Tourismus sieht eindeutig anders aus.
Auf einer anschliessenden Wanderung über verwachsene Strassen zu ihrem Dorf Ta Phin erzählt Phom mehr von sich. Phom ist 26 Jahre alt und hat zwei Kinder, ihr erstes hat sie bereits mit 19 bekommen. Eigentlich wollte sie nie so früh Mutter werden, doch bei ihnen, dem Volk der Roten Dao, ist das halt einfach so. Ihren Mann konnte sie nicht selbst auswählen, sie wurde verheiratet als sie 18 Jahre alt war. Phoms Geschichte bewegt mich. Ich höre ihr gespannt zu, während wir die unglaubliche Aussicht über die vom Wasser schimmernden Reisterrassen geniessen. Betroffen erzählt sie uns von ihrem Mann, dem Trinker: „Leider hatte ich nicht so viel Glück mit meinem Mann. Er ist faul und trinkt zu viel. Ich muss mich um alles kümmern und schauen, dass wir über die Runden kommen.“
Ich höre ihr gespannt zu, während wir die unglaubliche Aussicht über die vom Wasser schimmernden Reisterrassen geniessen.
Wir merken, dass Phom längst aufgehört hat zu lächeln und peinlich berührt auf den Boden schaut. Die Stimmung passt in das Bild der kaputten Häusern und all dem Dreck, den wir unterwegs gesehen haben. Die meisten Menschen hier oben kämpfen um ihren Lebensunterhalt. So auch Phom. Der Tourismus sei für ihre Familie und ihr Volk ein Segen, doch es reiche eben nur für das Nötigste. Ohne die Touristen hätte sie ein echtes Problem. Doch das Geld, das sie eigentlich für ihr Haus sparen möchte, um es mit einer Wasserleitung zu versorgen und eine Toilette und Dusche einzubauen, muss sie ihrem Mann abgeben. „Dann versäuft er es mit Reiswein!“, erzählt sie beschämt. Doch warum gibt sie ihrem Mann denn überhaupt ihr hart verdientes Geld ab? Sie antwortet verlegen und mit leiser Stimme: „Sonst schlägt er mich.“
Phom ist klein und zierlich. Sie arbeitet die ganze Zeit und kümmert sich um ihre Kinder, wenn sie nicht in der Schule sind. Sie führt Touristen in Sa Pa herum, geht mit ihnen in den Bergen und Reisterrassen wandern, zeigt ihnen die schönsten Wasserfälle. Ausserdem stellt sie Taschen her, die sie nachher auf dem Markt verkauft. Sie pflanzt Gemüse an, kocht, kümmert sich um die Schweine und Hühner – und ihr Mann? „Die Männer hier machen nichts, die Frauen machen alles. Wir arbeiten auf den Reisfeldern und kümmern uns um Kind und Kegel. Die Männer trinken nur Reiswein – den ganzen Tag“, erklärt Phom weiter.
Vielleicht sieht Phom deshalb viel älter aus, als sie eigentlich ist. Ihre Haut erinnert an rissiges Papier, tiefe Falten furchen sich in ihren Augenwinkeln. Bestimmt ist sie dehydriert. Seit ich sie kenne, habe ich sie keinen einzigen Schluck Wasser oder sonst irgendwelche Flüssigkeit zu sich nehmen sehen. Kein Wunder sieht ihre Haut so aus. Dazu kommt noch die Sonneneinstrahlung, Sonnencrème ist hier oben ein Fremdwort. Bei der Reisernte schützen sich die Arbeiter meist nur mit einem Reishut, ansonsten sind sie den Strahlen völlig ausgesetzt.
Wir treffen in Ta Phin, Phoms Dorf, ein. Hier leben und arbeiten zwei unterschiedliche Bergvölker. Die Schwarzen H’Mong und die Roten Dao, zu denen Phom gehört. Die Frauen der Roten Dao begrüssen uns herzlich. Sie sticken gerade an ihren Taschen und Decken. Alles tagelange Handarbeit, die sie dann für kleines Geld auf den Märkten den Touristen anbieten. Die Frauen sehen älter aus, besonders Phoms Mutter, die erst Ende 40 ist, sieht zwanzig Jahre älter aus. Die Frauen tragen alle rote Tücher auf dem Kopf, auf den Häuptern der Rangältesten thronen sogar ganze Bündel von Tüchern. Diese symbolisieren den Status innerhalb der Gruppe.
Angekommen bei der Homestay-Family beziehen wir unser Matratzenlager. Bald gibt es Abendessen, denn in der Holzhütte kochen die Frauen schon über dem offenen Feuer. Die ganze Familie ist gekommen, Kinder springen im Haus herum, ein älterer Mann trägt die Zutaten fürs Essen ins Haus. Wir sitzen auf den für Vietnam typischen Kinderplastikstühlen um einen Tisch herum. Sie sind viel zu klein für unsere westlichen Körper.
Wir sitzen auf den für Vietnam typischen Kinderplastikstühlen um einen Tisch herum. Sie sind viel zu klein für unsere westlichen Körper.
Auf dem Tisch landen nach und nach kleine Schüsseln mit Essen: Neben selbst gemachten Pommes-Frites gibt es Reis, Rind, Schwein, Poulet, Bohnen, Nudeln, Kohl, Salat, Schlange und Hund. Phom erklärt, dass es bei den meisten Familien nur einmal im Monat Fleisch gibt, da es sonst zu teuer sei. Das erklärt, weshalb plötzlich das halbe Dorf um unseren Tisch versammelt ist. Es wird den ganzen Abend gelacht und geplaudert, obwohl wir uns nur mit Händen und Füssen unterhalten können.
Am nächsten Morgen holt uns Phom bei unserem Homestay ab. Auf dem Weg zurück ins Dorf geniessen wir die unglaubliche Landschaft, die Reisterrassen, die für uns ungewohnte Flora und Fauna und die vielen Kinder, die uns nachlaufen oder uns mit grossen Blicken anschauen.
Ein Kind verrichtet seine Notdurft vor unseren Augen auf der Strasse, Hosen hat es keine an, daneben sitzt ein dreckiger Hund. Das gehört hier zum Normalzustand. Eine Toilette oder Zugang zu fliessend Wasser hat nicht jede Familie.
Als Angehörige einer Minderheit eines Bergvolks Vietnams ist es Phom untersagt, die öffentlichen Toiletten in Sa Pa zu benützen oder in ein Restaurant zu sitzen. „Die Leute beschimpfen uns und sagen, wir seien schmutzig. Das macht mich traurig“, erzählt sie. Wenn Phom mal auf die Toilette muss, geht sie hinter einen Busch oder aufs Feld. Sie wäscht sich an einem öffentlichen Brunnen oder schleppt Wasserkübel zu ihrem Haus.
Strom hat sie nur ab und zu. Doch ihr Mann braucht ihn mehrheitlich um TV zu schauen. Als er einen Fernseher wollte, musste unbedingt einer her, obwohl die Familie das Geld eigentlich für die Isolierung der Wände und ein Bett sparen sollte. Decken hat sie auch nicht genug, geschweige denn warme Kleidung für sich und ihre Kinder, wenn der Winter kommt. Auch hier bei den Reisfeldern im hohen Norden Vietnams kann es schneien. Phom erzählt uns von ihrem Traum: „Ich hätte gerne meinen eigenen Homestay, doch mein Haus hat ja nicht mal fliessend Wasser und ich kann mir keine Matratzen für die Gäste leisten. Wir schlafen ja schon zu viert in einem Bett!“ Phoms Situation stimmt mich traurig, ihre Lage scheint aussichtlos. Ein Teufelskreis.
Phoms Situation stimmt mich traurig, ihre Lage scheint aussichtlos.
Nach einer längeren Wanderung treffen wir wieder in Sa Pa ein. Mein Abenteuer beim Bergvolk der Roten Dao neigt sich dem Ende zu. Ich kann Phom nicht genug danken für die Erlebnisse, die ich durch sie erleben durfte. Ihre Geschichte hat mich stark bewegt und mir wieder – wie so oft während meinen Reisen – gezeigt, wie gut es mir geht und wie viele Möglichkeiten mir das Leben bietet. Ich kann gehen, wenn es mir nicht mehr passt – doch Phom bleibt: Sie bleibt für ihre Kinder und ihr Bergvolk. Die Angehörigen einer ethnischen Minderheit Nordvietnams, die es in zehn Jahren – so wie ich es erlebt habe – wahrscheinlich nicht mehr geben wird.
Nach unserer Verabschiedung schaue ich Phom noch lange nach, bevor sie wieder im Nebel Sa Pas verschwindet. Vermutlich sehe ich sie und ihr Bergvolk nie wieder, doch die Erinnerung und die Hoffnung bleiben, dass es Phoms Kinder einmal besser haben werden als sie.